Schon wieder sowas…

12:20 Uhr – Ich gehe durch die Regalwände im NETTO an der Berliner Str. und versuche meine kurze Pause für einen spontanen Getränkeeinkauf zu nutzen. Auf der Suche nach Milch werde ich von 2 sich jagenden Kindern überholt. Blöd, dass die beiden eine ältere Dame übersehen, die sich quer zur Laufrichtung vor einem Regal mit Kondensmilch aufhält. Die wird volles Rohr weg geballert. Das Geschrei ist groß. Die Alte schimpft lautstark, eine stark adipöse Frau in offenen und viel zu kleinen Öko-Sandalen kommt mit schnellen Schritten herbei gewankt und ruft unterdessen nach den beiden Verbrechern: „Jan Lukas!!! Jeremy!!! Sofort, hierhin!!! Ihr kotzt mich so was von an. Ich hab‘ die Schnauze voll! Das war‘s“ Offensichtlich die Mutter. Offensichtlich übersieht sie genau wie ihre beiden Jungs die ältere Dame, die sich inzw. versucht am Einkaufswagen aus ihrer Schräglage zwischen Kaffeeweißer und Kondensmilchpäckchen hoch zu ziehen.

Ein Mitarbeiter, schwer beschäftigt mit dem Ausräumen eines fast leeren Teekartons 3 Meter neben der gefallenen Dame, macht gänzlich unbeirrt von diesem Drama seinen Job. Seine Auffassung signalisiert, dass es hier nichts gibt, was seines Blickes würdig, geschweige denn seiner Hilfe bedürftig sein könnte.

Inzwischen habe ich der Dame helfend meinen Arm geboten, doch sie schreit mich an: „Verpiss Dich!“ WIE BITTE? Ich hör‘ wohl nicht recht. Sofort ziehe ich meine helfende Hand zurück und bin irritiert. Habe ich die alte Dame falsch verstanden? Vielleicht ist sie auch traumatisiert und hat Angst, dass ich ihr ebenfalls etwas tun will. Daher versuche ich es mit Worten: „Darf ich Ihnen…“ Ein wütender Blick aus dem Kondensmilchregal sticht zu und die Dame faucht mich erneut an „Scheiß Wichser, scheiße!“ Sie schlägt nach mir. Ich weiche zurück.

Die dicke Frau kommt wieder zurück, an der linken Hand das Handgelenk einer der Jungs an der rechten Hand den Unterarm des anderen Jungen. Mir fällt auf, dass die beiden Jungs nicht weinen. Und das, obwohl sich die jeweils fest umklammerten Hände der beiden dunkel rot verfärben. Fast so dunkel, wie das Gesicht der dicken Frau, die inzwischen stark schwitzend und schnaubend ihre Hasstirade auf die beiden Kinder fortführt, ihnen „dat Fernseh“ verbietet, „dem Spielplatz mit Papa“, die „Eiskreme“ und schließlich noch jegliches Gespräch mit der Mutter: „Vom Eusch hör‘ isch nix mehr! Is‘ dat klar getz?“ Erneut wort- und blicklos vorbei an der alten Dame, dem beschäftigten Regaleinräumer, mir und ihrem im Gang wartenden gut gefüllten Einkaufswagen, geradewegs hinaus auf die Berliner Str.

Die alte Dame steht wieder aufrecht, schnappt sich eine Packung Kondensmilch und verlässt mit Einkaufswagen voran grummelnd und nuschelnd den Tatort. Der Verkäufer sieht, dass ich ihn sehe, zieht kurz die Schultern hoch, schnalzt mit der Zunge und räumt dann kopfschüttelnd weiter Tee-Kartons leer.

12:25 Uhr – Mit 1 Liter Milch in der Hand bewege ich mich Richtung Kasse. Durch das große Fenster des Ladens kann ich sehen, wie die dicke Frau sich auf eine Stufe vor dem großen Ladenfenster fallen lässt. Sie stöhnt und kneift die Augen zusammen. Scheinbar bekommt sie schwer Luft. Die beiden Jungs rennen inzwischen wieder kreuz und quer über den Gehweg, jagen sich, schreien dabei herum. Ich stehe nun an der Kasse und warte, dass die Kassiererin wieder am Platz ist, die gerade eine nicht ausgezeichnete Ware aus den Aktionskörben im Laden sucht, um den Preis dafür manuell einzutragen. Ich höre einen wiederkehrenden Reim von einem der beiden Jungs draußen in den Laden dringen: „Trinkst du morgens Alkohol, bist du abends richtig voll!“ Die Kassiererin ist wieder da. Die Kundin vor mir zahlt. Ich bin dran. Da höre ich von draußen ein wildes Klingeln, einen kreischenden Ausruf „Jeremy!!!“ einen Knall, Geschepper,… Ich drehe mich um. Ein Radfahrer auf dem Radweg ist gestürzt. Einer der Jungs sitzt ebenfalls auf dem Boden und heult. Der andere lacht aus sicherer Entfernung lautstark. Die fettleibige Mutter versucht sich aus der Stufe hoch zu drücken, schafft es aber nicht, auch nicht, als sie sich zur Seite rollt. Daher entschließt sie sich, sitzen zu bleiben. Der Radfahrer steht auf, prüft sein Fahrrad auf Schäden, geht auf den heulenden Jungen zu, der sofort aufsteht und weg läuft. Der lachende Junge rennt hinterher und schreit „Dicke Ficke! Dicke Ficke!“. Die dicke Frau guckt zutiefst erzürnt und mit stark zusammen gezogenen Augenbrauen den Fahrradfahrer an, der daraufhin wortlos und irgendwie verunsichert seines Weges fährt.

„3 Euro 89 macht das.“ Die Kassiererin sieht mich leicht genervt an. Ich zahle und gehe raus, lasse die fette schwitzende Frau, den gestürzten Radfahrer, die aggressive alte Dame, die hyperaktiven Jungs Jeremy und Jan Lukas, den desinteressierten Regalräumer, die genervte Kassiererin für heute hinter mir.

Mal gespannt, was morgen passiert…


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